Ausgabe 24, März 1999
Eine Vision wird Wirklichkeit: War das "lebendige Physikbuch" für die Fachdidaktiker der TU Berlin vor kurzem noch Arbeitsbegriff und Utopie zugleich - mit der Veröffentlichung der "Interaktive Bildschirmexperimente Optik" des Ernst Klett Verlags hält ihre Innovation nun Einzug in Deutschlands Schulen. Werden die "Interaktiven Bildschirmexperimente" eine neue Epoche des naturwissenschaftlichen Unterrichts einläuten?
Neue Technologien und Schule
Seit dem Siegeszug des PCs sind immer wieder aufs neue Versuche unternommen worden, diese neue Technologie in der schulischen Praxis einzusetzen. Die Angst, Computer könnten die Lehrpersonen verdrängen oder die Schüler krank machen, ist größtenteils verschwunden, die Begeisterung einzelner hat einer Akzeptanz durch die meisten Lehrerinnen und Lehrer Platz gemacht.
Der realistischere Blick auf die Möglichkeiten des EDV-unterstützten Unterrichts konnte allerdings nicht daran vorbei, daß nur wenige Einsatzmöglichkeiten tatsächlich sinnvoll und möglich sind und den Unterricht bereichern können. Das "Lernen mit dem Computer" war allzu oft abstrakter und unverständlicher als der traditionelle Unterricht selbst.
Dieses Dilemma hat die Arbeitsgruppe von Prof. Dr. R. Rass am Institut für Fachdidaktik Physik und Lehrerbildung (IFPL) der Technischen Universität Berlin seit Jahren beschäftigt. Vor gut drei Jahren begann deren Kritik am bisherigen Gebrauch der neuen Technologie praktisch zu werden: Komplexe Sachverhalte, Experimente, Geräte und Verfahren sollten in realitätsnaher Weise zugänglich und begreifbar gemacht werden. Das Team um StR J. Kirstein begann, ein "lebendiges Physikbuch" zu entwerfen und zu realisieren. Die "Interaktiven Bildschirmexperimente" (IBE) sollten der Schlüssel zu einer Revolution des EDV-unterstützten Physikunterrichts werden.
Was sind Interaktive Bildschirmexperimente?
Die Vision des "lebendigen Physikbuchs" basiert auf einer fotorealistischen Wiedergabe von Schlüsselexperimenten der Physik. Speziell bearbeitete Fotos und Videosequenzen ermöglichen es dem Benutzer, Geräte, Funktionen und Abläufe mittels der Maus genauso zu steuern, wie in der Wirklichkeit.
Statt ausschließlich Simulationen zu bestaunen und mit einer auf Popup-Menüs beschränkten Interaktivität konfrontiert zu sein, "begegnet" der Benutzer der Realsituation - sei es im Praktikumsraum, im Labor oder einem ferngelegenen Forschungsinstitut. Dort kann er Schaltelemente bedienen, Bestandteile des Experiments anfassen, verschieben, drehen u.v.a.m., mit anderen Worten: selbst tätig werden.
Die "Interaktiven Bildschirmexperimente" zeichnen sich durch eine minimale Reduktion der komplexen Wirklichkeit aus. Selbst "ungeliebte" Nebeneffekte werden abgebildet, erhöhen die Realitätsnähe und geben dem Anwender die Möglichkeit, die gleichen Fehler zu machen wie im Realexperiment. Dies erhöht nicht nur die Authentizität der abgebildeten Sachverhalte - auch Fehlerabschätzungen bis hin zu einer kompletten Fehlerrechnung werden hierdurch möglich.
Wozu können IBEs dienen?
An der Technischen Universität Berlin werden die Interaktiven Bildschirmexperimente mit großem Erfolg in Vorlesungen eingesetzt, die aufgrund ihrer großen Hörerzahl keine Demonstrationsexperimente erlauben.
IBEs können aber genausogut zum individuellen Erarbeiten eines Themenkomplexes und bei der Gruppenarbeit eingesetzt werden, Gesprächsgegenstand einer Prüfung sein und und und ...
Von besonderer Bedeutung können Interaktive Bildschirmexperimente sein, wenn es darum geht, unzugängliche oder gefährliche Situationen wiederzugeben oder langwierige Experimentaufbauten zu vermeiden.
Bei Erprobungen an Berliner Schulen wurde eine große Begeisterung bei Schülern und Lehrern deutlich, die in der Vergangenheit darunter zu leiden hatten, daß manches stundenlang vorbereitete Demonstrationsexperiment zum Zeitpunkt der Vorführung vor der Klasse nicht funktionierte.
Eines können (und sollen) die Interaktiven Bildschirmexperimente allerdings nicht: den Lehrer ersetzen. Sie sind Hilfsmittel wie die Tafel, das Arbeitsblatt, die Overheadfolie und der Videofilm - nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Was leisten IBEs?
Die Interaktiven Bildschirmexperimente sind Medien von hoher Attraktivität, vermitteln viel Spaß beim Erkunden neuer und unübersichtlicher Gegenstände. "Begreifen" ist bei diesen Experimenten fast wörtlich zu nehmen, da der Anwender mit der Maus in die Situation eingreifen und Vorgänge solange wiederholen kann, bis er sie verstanden hat.
In der Kombination mit theoretischen und abstrakten Abhandlungen (Zeichnungen, Texte, Formeln, Aufgaben) sind die Lehrgegenstände vieldimensional darstell- und bearbeitbar. Hierdurch erhöht sich die Effizienz des Unterrichts.
Beispiel 1: Interferenz an einer CD
Die Abbildung zeigt einen Ausschnitt aus der brandneuen Multimedia-Produktion "Interaktive Bildschirmexperimente Optik": Die Interferenz am Reflexionsgitter wird am Beispiel einer CD-Oberfläche dargestellt.
Der Anwender kann im Interaktiven Bildschirmexperiment den Abstand zwischen Beobachter (hier: Kamera) und der CD-Oberfläche verändern. Hierbei treten farbenprächtige Interferenzmuster (Ringe) in Erscheinung.
Eine systematische Untersuchung ermöglicht die Bestimmung des Spurabstands g der CD mit einer Genauigkeit von 5% (1,50 µm < g < 1,56 µm).
Beispiel 2: Außerschulischer Lernort Deutsches Museum, München
Auch für die Vorbereitung und Nachbereitung von Exkursionen könnten die Interaktiven Bildschirmexperimente eine Schlüsselstellung bekommen. Dies zeigt eine Erprobung am Kerschensteiner Kolleg, München.
Dort wird im Rahmen der Lehrerfort- und -weiterbildung eine IBE-basierte Multimedia-Anwendung eingesetzt: Deutsches Museum.
Die in der Anwendung enthaltenen IBE-Exponate des Deutschen Museums, München, und hilfreiche Erläuterungen in Wort, Bild und Grafik haben einen erfolgreichen Praxistest absolviert.
Beispiel 3: Lärmmessung mit der ZELLE
Als Anregung für die Fort- und Weiterbildung ist eine Studie zur Lärmmessung entworfen worden: Interaktive Bildschirmexperimente als Bestandteil eines elektronischen Handbuches. Die Abbildung zeigt das Meßsystem (ZELLE und Lärmsensor) sowie die Benutzeroberfläche der zugehörigen Software ZELLÄRM.
Der Anwender lernt, die Hard- und Software des Meßsystems so zu bedienen, wie es in der Realität erforderlich ist. Bei korrekter Bedienung wird eine reale Messung (einschließlich des untersuchten Schalls; hier: Verkehrsgeräusche) wiedergegeben.
Ausblick
Die faszinierenden Möglichkeiten des Einsatzes von Interaktiven Bildschirmexperimenten haben den Ernst Klett Verlag sehr frühzeitig veranlaßt, die Arbeiten von Prof. Dr. R. Rass und StR J. Kirstein zu unterstützen. Die aktuelle Produktion "Interaktive Bildschirmexperimente Optik" ist erst der Anfang einer Reihe von Produkten des Verlagshauses, bei denen diese Technik verwendet werden wird.
Die Technische Universität Berlin hat trotz ihrer angespannten Haushaltslage den Arbeitsbereich "Interaktive Dokumentation und Präsentation" (inDuP) des Instituts für Fachdidaktik Physik und Lehrerbildung mit Sondermitteln ausgestattet.
Durch die Zusammenarbeit mit dem Unternehmen DiM l Digitale Medien für Bildungs- und Präsentationszwecke, Berlin, konnten die Interaktiven Bildschirmexperimente zur Produkt- und Marktreife weiterentwickelt werden. Sie sind dort integraler Bestandteil einer ganzen Palette neuartiger, im eigentlichen Wortsinne "interaktiver" Medien: inMotion. Die Medien der Reihe inMotion finden Verwendung in CD-ROM-, Intranet- und sogar Internet-Anwendungen.
Rechtzeitig vor dem Ende dieses Jahrtausends wurde eine neue Ära zumindest der physikalischen Lehre begründet. Dabei scheinen die Anwendungsgrenzen des von Prof. R. Rass und StR J. Kirstein vor drei Jahren formulierten Grundkonzepts noch längst nicht erreicht zu sein. Ständig kommen neue Formen und Anwendungsbereiche hinzu.
Zum Weiterlesen
J. Kirstein und R. Rass: Interaktive Bildschirmexperimente - eine neue
Möglichkeit zum individuellen Lernen mit Multimedia. MNU 50 (1997)
Bd. 1 S. 27-28
J. Kirstein und R. Rass: Multimedia im Physikunterricht - die Zukunft der
persönlichen Lehr- und Lernmedien. Physik in der Schule 35 (1997)
Bd. 3 S. 110-114
U. Resch-Esser: Physiklabor für jedermann ... Phys. Bl. 53 (1997)
Nr. 5 S. 408-409
A. Rothenhagen, J. Kirstein und R. Rass: Mit der Maus Laserdrucker zerlegen.
Der Magnet (1998) Nr. 16 S. 2-4 (Hrsg.: Ernst Klett Verlag)
Zum Ausprobieren
CD-ROM Interaktive Bildschirmexperimente Optik (Ernst Klett Verlag)
ISBN 772581
Internet:
http://www.physik.tu-berlin.de/institute/IFPL
http://www.B-DiM.de
Der Autor ist Experimentalphysiker mit langjähriger Lehrtätigkeit, ehemaliger Mitarbeiter der Berliner Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport (EDV-Nutzung in der schulischen Umweltbildung) und Gründer des Unternehmens DiM l Digitale Medien für Bildungs- und Präsentationszwecke, Berlin.